Die Kraft der Malerei

Ein Portrait des Künstlers Reinhard Stammer

Jens-Philipp Gründler

“In der Malerei spüre ich eine Energie, die das Malen einfach geschehen lässt. Vielleicht ist es die Kraft, die alles ins Leben gerufen hat”, sagt Reinhard Stammer und erklärt damit, auf welch mannigfachen Ebenen sich seine Kunst abspielt. Auf den ersten Blick erscheint dieses Statement einleuchtend, beschäftigt man sich länger mit Stammers Worten, offenbaren sie etwas Geheimnisvolles, schwer Greifbares. Immer wieder geben Kreative zu Protokoll, dass die Antriebsfeder hinter ihrer Kunst einer Art Lebensenergie gleichkommt, einer allumfassenden Kraft.

Es sind diese tiefgehenden, eigentümlich berührenden Erklärungsversuche, die Aphorismen ähneln, welche auch in Bezug auf Stammers Œuvre von Bedeutung sind. Für den Befragten mag es mitunter schwierig sein, seinen künstlerischen Impetus zu beschreiben, und doch muss immer wieder versucht werden, dem Geheimnis der Kreativität auf die Spur zu kommen. Also bleibt dem Fragesteller nichts anderes übrig, als stetig nachzuhaken, auch auf die Gefahr hin, penetrant zu wirken.

Was ist das für eine Kraft, die in Stammers Werk waltet? Man ist geneigt, Biografisches zu bemühen, um Erklärungen zu finden. Doch diese Vorgehensweise entpuppt sich allzu oft als mühselig und irreführend. Ist es denn nicht etwas Wunderbares, wenn sich ein Kunstwerk nicht unmittelbar erschließt? Können wir die Schönheit nicht einfach gelten lassen, ohne Gründe dafür zu suchen?

Stammers aktuellste Arbeiten, von Abstraktion und Helligkeit geprägt, appellieren direkt an die Seele des Betrachters, rufen Gemütsruhe und meditative Zustände hervor. Gemälde wie das oben abgebildete “2018?” weisen eine hohe ästhetische Qualität auf, sind eher Kompositionen als Zufallsprodukte.

Eine humoristische Weltsicht schreibt sich Stammer im Interview zu, und lockert damit die oftmals mit Kunstdeutung einhergehende, übertriebene Interpretationswut. “No plan, but it´s o.k.”, nennt Stammer ein in diesem Jahr entstandenes Bild. Nehmen wir dem Künstler dieses Augenzwinkern ab? Entstehen seine Kompositionen tatsächlich planlos? Oder existieren die Gemälde bereits in einer Art platonischen Ideensphäre, und sind schon vor dem Wurf auf Leinwand oder Papier fertig? Glücklich muss derjenige Kreative sein, der aus einem Quell von Inspirationen schöpfen kann, ohne sich dafür anstrengen zu müssen! Stammers Output, so der Eindruck, entspringt einem Flow.

Seine Bildsprache ist unverwechselbar und von hoher Meisterschaft gekennzeichnet. Auch wenn er abstreitet, ein “weiser Mann” zu sein, hat der Maler doch ein Niveau erreicht, welches unangestrengt von Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit dominiert wird.

Zudem sprechen die Werke des 67-Jährigen eine für die Betrachter auf der ganzen Welt adressierende Universalsprache. Dementsprechend fällt die internationale Aufmerksamkeit aus, war Stammer mit seinen Gemälden doch bereits in Indien, China, London, Sankt Petersburg und der Türkei unterwegs. Auch in New York weiß man seine beschwingte, anrührende Malweise zu schätzen. Es mutet an, als habe Stammer einen Schlüssel parat, unter dessen Verwendung er die Begeisterung der Menschen weckt.

Gelassenheit und Heiterkeit vermitteln die gegenwärtigen Arbeiten des in Handewitt lebenden Künstlers, der dort in diesen Tagen eine neue Galerie eröffnet. In der aktuellen Phase fielen seine Bilder “frei und luftig” aus, weil es ihm gut gehe, sagt Stammer. Frühere Gemälde konnten dagegen durchaus morbide Szenarien enthalten und bei den Betrachtern ein Gefühl von Verstörung hervorrufen.

Vergleicht man etwa ein sehr frühes Werk, wie die “Toteninsel” von 1970, mit heutigen Arbeiten, so tut sich eine Kluft auf. Man ist geneigt, die Bilder verschiedenen Urhebern zuzuschreiben, und doch stammen sie von ein und derselben Hand. Stammer erwähnt Lebenskrisen, einen Gang durch Licht und Schatten, welcher sein Opus prägt. Die Malerei habe ihn gerettet, und sich im Laufe der Dekaden in eine Richtung entwickelt, die dem Licht mittlerweile den Vorrang gibt.

Die Nähe des Malers zu fernöstlichen Philosophien und Religionen half ihm dabei, sich von dem Teil des Geistes zu befreien, der sich immer wieder auf das Ego bezieht. Vielleicht ist es dieser durchaus “weise” Akt, der herangezogen werden kann, um zu ergründen, weshalb Stammers Bilder tatsächlich “ungewollt” entstehen, wie er sagt. Trotz seiner eingehenden Beschäftigung mit der Advaita-Lehre und dem Buddhismus, sei er nicht “erleuchtet worden”. Und doch habe die Mystik einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf seine Arbeit. Zieht man das kryptische Wort des Advaita-Lehrers Ramesh Balsekar zu Rate, demzufolge Bewusstsein alles ist, was ist, erkennt man unter Umständen, welch holistischer Anspruch Stammers Werke bedingt, auch wenn der Maler dies von sich weisen würde.

Sympathisch ist die Bescheidenheit des Handewitters, dessen künstlerische Herangehensweise in letzter Konsequenz doch geheimnisumwittert, mystisch und unerklärlich bleiben muss. Der Versuch, den Antrieb hinter Stammers Kunst zu beschreiben, darf also als gescheitert gelten. Gerade in der Erklärungslosigkeit entspringt aber ein Quell des hohen Kunstgenusses. Selbst wenn es dem Betrachter nicht gelingen mag, diesen mit Worten zu fassen, steht das Werk von Reinhard Stammer da wie ein seit Ewigkeiten existierender Monolith, wie eine eigene Galaxie, deren Sprache vom Urheber verschlüsselt wurde. Willentlich, oder nicht, diese Form der Kommunikation von Maler und Betrachter geht mit Universalität einher. Der Dialog von Werk und rezipierendem Auge funktioniert denn auch unmittelbar, und transportiert etwas, das von primärer Bedeutung ist: den ästhetischen Hochgenuss.

Die bald erscheinende Oktober-Ausgabe der “eXperimenta” wird von Reinhard Stammer illustriert.

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